Wie eine eigene Schwester - und doch nicht ganz
Lea* lebt seit Geburt bei Familie Müller*. Und trotzdem ist ihr Hintergrund komplett anders als bei den anderen drei Kindern von G. und E. Müller.
Mitten in der Wohnstube von Familie Müller hängt eine Leiter aus Seil und Holz. Geschickt klettert Lea hinauf und lässt sich von Livia schaukeln. Die beiden lachen. Trotz dem Altersunterschied von zehn Jahren könnte man meinen, sie seien Geschwister. Sie wirken vertraut und ähneln sich auf den ersten Blick auch äusserlich. Doch der Schein trügt.
Zwar kam Lea kurz nach der Geburt zur Familie Müller, verwandt sind sie dennoch nicht. Bereits vor der Geburt wurde entschieden, dass Lea fremdplatziert wird. Ihre Mutter konnte schon für ihr erstes Kind nicht sorgen, dem Vater stand eine lange Haftstrafe bevor. Das Sorgerecht war den Eltern entzogen worden und für Lea wurde ein langfristiger Pflegeplatz gesucht.
Zusage für 18 Jahre
Bevor E. und G. Müller als Pflegeeltern zusagten, zögerten sie deshalb einen kurzen Moment. «Uns war bewusst, dass wir wahrscheinlich eine Zusage für die nächsten 18 Jahre machen», sagt der Vater E. Müller. Theoretisch ist man dazu zwar nicht verpflichtet. «Doch so wie bei einem eigenen Kind gibt man auch ein Pflegekind nicht einfach wieder weg», sagt G. Müller. Das war vor knapp neun Jahren. Damals waren ihre eigenen Kinder zwölf, elf und neun Jahre alt. Ein fünf Tage altes Baby aufzunehmen, bedeutete gewissermassen, wieder von vorne zu beginnen. Doch für G. erfüllte sich damit ein langgehegter Wunsch. Sie hatte gehofft, nochmals ein Baby aufziehen zu können, Säuglinge mag sie besonders gerne. Müllers hätten sich gut vorstellen können, mehr als drei eigene Kinder zu haben. Bewusst haben sie aber darauf verzichtet. Lieber wollten sie einem Kind, das nicht in der eigenen Familie aufwachsen konnte, die Chance geben, trotzdem in einer Familie gross zu werden.
Wie ein eigenes Kind ist Lea aber trotzdem nicht. «Wir lieben sie zwar genauso wie unsere eigenen Kinder», sagt E. und seine Frau ergänzt: «Die Chemie hat von Anfang an gestimmt, auch zwischen ihr und unseren eigenen Kindern.» Ein Pflegekind sei trotzdem nicht wie ein eigenes Kind und auch kein Ersatz dafür. «Man muss sich bewusst sein, dass man den Behörden jederzeit Rechenschaft ablegen muss», so der 46-Jährige. Monatlich müssen sie einen Bericht über den Verlauf mit Lea schreiben und abgeben, Entwicklungsziele vereinbaren und überprüfen und ihre Arbeit als Pflegeeltern wird regelmässig von Drittpersonen bewertet.
Familie Müller empfindet das keineswegs negativ und sogar wichtig, um Pflegkinder zu schützen. «Und trotzdem ist es auch anstrengend und anders als bei den eigenen Kinder, wo man als Erziehungsberechtigte das Sorgerecht hat, vieles selber entscheidet und von niemandem dafür beurteilt wird.»
Risiko Umplatzierung
Zudem besteht bei Pflegekindern immer ein gewisses Risiko der Umplatzierung, wenn sich die Gegebenheiten bei den Behörden oder dem Herkunftssystem ändern. «Natürlich werden solche Wechsel soweit als möglich vermieden und wir haben die Behörden bisher sehr umsichtig erlebt», sagt E.M.
Dafür erhalten Pflegeeltern eine finanzielle Entschädigung und fachliche Unterstützung bei Erziehungsfragen. Für Letzteres sind Müllers besonders dankbar. Vielmals haben Pflegekinder durch den familiären Hintergrund einen schweren Rucksack zu tragen. Das zeigt sich später oftmals mit Verhaltensauffälligkeiten oder Störungen im Bindungsverhalten. Und obwohl Lea von Anfang an bei Müllers aufwuchs, sind ihre Pflegeltern im Umgang mit ihr stärker gefordert, als sie es bei ihren eigenen drei Kindern waren.
Pflegeeltern als Konkurrenz. Ein weiterer Vorteil für Müllers: Sie stehen nicht im direkten Kontakt mit den biologischen Eltern. «Die leiblichen Eltern sehen Pflegeeltern oft als Konkurrenz. Dies ist verständlich, denn Fremdplatzierungen passieren meist nicht auf ihren Wunsch», so E. Müller.
Müllers versuchten anfangs, einen direkten Kontakt zu den leiblichen Eltern zu pflegen. Obwohl die Besuche begrenzt und begleitet waren, funktionierte es nicht lange gut. Die leiblichen Eltern machten den Pflegeeltern Vorwürfe. Man einigte sich, die Besuche bleiben zu lassen. «Zu Weihnachten oder an Geburtstagen schreiben wir dem leiblichen Vater jedoch immer eine Karte, auch er macht das so», sagt E. Müller.
Wenn Lea ihren Vater alle drei Monate im Gefängnis besucht, wird sie von einer Fachperson von Familynetwork begleitet. Zur Mutter kann die Achtjährige nicht mehr gehen. Sie ist gestorben, als Lea ein Kleinkind war.
Bub einer Bekannten
Anders war es beim ersten Pflegekind der Familie Müller. Dieser Junge war der Sohn einer Bekannten, der anfangs unbürokratisch ab und zu bei Müllers übernachtete, um die Mutter zu entlasten. Die Besuche wurden dann immer länger und häufiger und schliesslich konnte die Mutter wegen Problemen mit sich selber gar nicht mehr für ihren Sohn sorgen.
E. und G. Müller traten in direkten Kontakt mit den Behörden und nahmen den Jungen ein paar Monate bei sich auf. Als es dann aber darum ging, den Bub zusammen mit seiner Halbschwester fix bei sich aufzunehmen, lehnten Müllers ab. «Wir kannten die Mutter und den familiären Hintergrund zu gut, als dass wir die Kinder unbelastet hätten aufnehmen können», so G. Müller. Und obwohl sie die Behörden als umsichtig erlebt hätten, die das Wohl der Kinder an erste Stelle setzten, so sei es doch einfacher, mit einer Vermittlungsstelle wie Familynetwork zusammenzuarbeiten. «Sie kennen das System und wir haben eine Anlaufstelle, auch gerade für Fragen zur Erziehung.»
Wie eine Schwester. Mittlerweile hat Livia am Stubentisch Platz genommen und hört ihren Eltern beim Erzählen zu. Ihre beiden älteren Brüder sind gerade bei ihren Freundinnen. Kurz darauf kommt auch Lea aus dem Zimmer gerannt und setzt sich auf Livias Schoss. Wieder wirken die beiden sehr harmonisch. Auf die Frage, ob das auch so sei, antwortet Livia: «Ja! Ich habe mir eine Schwester gewünscht. Ich hatte ja ‹nur› zwei Brüder.» Für sie mache es keinen Unterschied, dass Lea nicht ihre leibliche Schwester sei. «Denn sie ist wie eine Schwester für mich.» Auch wenn die Familie bei der Zusage nicht wusste, welches Geschlecht das Pflegekind haben wird, hat sich Livias Wunsch nach einer Schwester erfüllt.
Es klingelt an der Tür. Zwei Nachbarsjungen wollen mit Lea Verstecken spielen. Die Achtjährige springt von Livias Schoss auf, zieht eine Jacke über und verschwindet auf der Wiese.
*Namen geändert
Text & Bilder: Melanie Bär, Journalistin BR