Bei Mami und Papi gelten andere Regeln als bei Mama und Papa
Luca* kam bereits als Neugeborener zu Familie Loosli*. Ein Ersatz für ein weiteres eigenes Kind ist der mittlerweile Fünfjährige aber nicht. Auch wenn sich die dreiköpfige Pflegefamilie am Anfang noch ein Geschwisterchen für ihren Sohn gewünscht hätte.
«Ich mache eine Pizza. Kannst du mir helfen, Mami?», fragt Luca, während er gelben Knet ausrollt. Beatrice Loosli nimmt das kleine Plastikwallholz und fährt in allen Richtungen über den Spielknet. Luca ist mit dem Resultat zufrieden, nimmt weissen und roten Knet, verwandelt ihn in Mozzarella und Tomaten und beginnt, die Pizza zu belegen. Am Schluss stellt er seine Lieblingszutat her: Salami. «Klar», sagt Beatrice und lacht, «den liebst du. » Luca hält inne, schaut auf und fügt an: «Und Mayo.»
Tagesmutter statt Kindergärtnerin
Während er am Stubentisch weiter konzentriert Pizza um Pizza kreiert, wendet sich Beatrice der Zeichnerin und Schreiberin zu und beginnt zu erzählen. Es war im Mai 2010, als sie ihre Heimat in der Ostschweiz zusammen mit ihrer Familie Richtung Bern verliess, zurück zu den Wurzeln ihres Mannes. Sohn Adrian war damals zwei Jahre alt. Um in der fremden Welt schnell Fuss zu fassen, stellte sich die ausgebildete Kindergärtnerin als Tagesmutter zur Verfügung. So lernte sie schnell andere Mütter kennen und konnte neben der Betreuung von Adrian gewissermassen auch ihren Beruf ausüben: «Denn Themen wie Psychologie und Pädagogik sind nicht nur als Kindergärtnerin, sondern auch als Tagesmutter wichtig.»
«Wir lieben Herausforderungen»
Immer wieder wurde sie von verschiedenen Personen darauf angesprochen, Pflegekinder aufzunehmen. Sie und ihr Mann hatten sich zuvor nie mit dem Thema befasst. «Weil mein Mann und ich Herausforderungen lieben, begannen wir, uns darüber zu informieren», begründet Beatrice Loosli. Das war vor sieben Jahren.
Loslassen und Gott vertrauen
Damals war Sohn Adrian kurz vor dem Eintritt in den Kindergarten. Beatrice und ihr Mann Stefan hatten damit abgeschlossen, weitere Kinder zu bekommen. Nicht dass sich das Ehepaar nicht ein Geschwisterchen für Adrian gewünscht hätte: «Aber nicht krampfhaft. Entweder auf natürliche Weise oder eben nicht.» Beatrice ist keine Person, die viele Pläne macht. Sie nimmt das Leben, wie es kommt, hat gelernt, loszulassen und Gott zu vertrauen.
Dass sich Stefan und Beatrice damals trotzdem entschlossen haben, ihre Familie für ein Pflegekind zu öffnen, habe denn auch nichts mit dem unerfüllten weiteren Kinderwunsch zu tun gehabt. «Gegen aussen mag es so aussehen, das schliesse ich aus den Reaktionen im Dorf. Der Grund liegt aber woanders. Für mich muss etwas Sinn machen, damit ich mich voll reingeben kann. »
Kindern einen Halt geben
Um herauszufinden, ob die Aufnahme von Pflegekindern eine solche Lebensaufgabe sein könnte und wie es sich anfühlt, sie in den eigenen vier Wänden aufzunehmen, boten sie zwei Heimkindern während der Sommerferien 2013 drei Wochen lang einen Ferienplatz an. Ihr Fazit: «Es war intensiv, aber positiv und es machte für mich definitiv Sinn, diesen Kindern, um die herum alles zerbricht, einen kurzen Moment Halt zu geben.» Sie empfiehlt allen, die sich überlegen, ein Pflegekind aufzunehmen, einen solchen „Testlauf“„ zu machen, um Gewissheit zu bekommen.
Nach diesen drei Wochen war nicht nur für sie, sondern auch für ihren Mann und ihren Sohn klar, dass die Bewerbung bei Familynetwork richtig ist. Im Wissen, dass dies noch keine Zusage ist, sondern sie erst bei der Anfrage definitiv entscheiden.
Drei Tage Zeit, sich zu entscheiden
Diese kam ein Jahr später in Form eines Anrufs. Die einzige Information: ein Neugeborenes und drei Tage Zeit, um zu entscheiden. Beatrice Loosli erfuhr weder Hintergrund, Geschlecht noch wie lange das Kind bei ihnen platziert werden soll. Sie beriet sich mit Mann und Sohn. Zudem rief sie ihre Eltern an. «Während des Überlegens kam plötzlich auch viel Freude auf. Das gab zu allem anderen den letzten Schliff.» So sagten schliesslich alle Ja – auch Beatrice. Sohn Adrian fand: «Wenn ein Kind unsere Hilfe braucht, dann helfen wir.»
Drei Monate später zog Luca bei ihnen ein. Just am Tag seiner geplanten Geburt. Er war zu früh zur Welt gekommen, verbrachte die ersten zehn Wochen im Spital. Nach weiteren zwei Wochen bei einer SOS-Familie zog er in der Mietwohnung in einem umgebauten Bauernhaus in einem Berner Vorort bei Familie Loosli ein.
Nicht ganz gesund
«Redest du von mir?», meldet sich Luca plötzlich und schaut zu Beatrice auf. Er ist gerade damit beschäftigt, Mayonnaise herzustellen, und drückt gelbe Knete durch einen Strohhalm. Beatrice nickt und erzählt weiter. Vom neugeborenen Luca, der zerbrechlich und angeschlagen war. Nächtelang seien sie an seinem Bett gesessen, hätten mit ihm inhaliert, ihn «ufpäpelet», wie Beatrice es bezeichnet. Es habe sich gelohnt, heute sei Luca ein gesunder Junge, der dieses Jahr sogar von der Grippewelle im Dorf verschont blieb. Und trotzdem: Auch heute müsse sie bei ihm besonders gut auf gesunde Ernährung und viel Bewegung achten.
Dafür hat Luca nicht immer Verständnis. Besonders nach den zwei Wochenenden, die er abwechselnd bei Mama und Papa, wie er die leiblichen Eltern nennt, verbringt. Dort bekommt er Fast Food, darf lange aufbleiben und hat auch sonst wenig Regeln und viele Privilegien, die er bei Looslis nicht hat. «Verständlich. Sie haben ihn ja nur diese zwei Tage», sagt Lucas Pflegemutter. Einfach sei es für sie aber trotzdem nicht. «Er kommt müde nach Hause und ist sehr reizbar. Ich bin dann einfach still», sagt Adrian, der sich mittlerweile auch an den Stubentisch gesetzt hat und eine Knetrose herstellt.
«Ich tue es für Luca»
Auch Eifersucht ist im Spiel. Das zeigt sich, wenn Luca nach seiner Rückkehr sagt, dass Looslis Wohnort wüst sei und es blöd ist, da zu wohnen. «Ich weiss, wo er diese Aussagen gehört hat, trotzdem muss ich immer wieder lernen, es sachlich zu nehmen.» Das gelinge, wenn sie sich die Situation der Eltern vor Augen führe. «Ich würde wahrscheinlich genauso fühlen, wenn ich mein Kind abgeben müsste.»
Beatrice und Stefan wissen, dass die Beziehung zu den leiblichen Eltern für Luca wichtig ist. «Deshalb tue ich alles, wirklich alles, damit er sich gut entwickeln kann. Ich tue es für Luca», so Beatrice. Auch wenn sie besonders am Anfang manchmal «zweimal leer schlucken musste», wie sie sagt. «Zum Beispiel, als wir Luca als Baby Kleidungsstücke der Mutter ins Bett legten, damit ihr Geruch für ihn vertraut wurde.»
Am schwierigsten sei es für sie als Familie, Lucas Zerrissenheit mitzuerleben. Etwa wenn er weint, weil er seinen Papa vermisst, zu dem er eine enge Beziehung hat. «Wir versuchen nicht, dagegen anzukämpfen, sondern es zuzulassen und ihn in seinem Traurigsein und seiner Zerrissenheit zu begleiten.» In solchen Momenten schreibe sie mit Luca zusammen einen Brief für den Vater. Ein spontaner Besuch liegt wegen der akribisch geregelten Besuchszeiten nicht drin.
Ungewisse Dauer
Grundsätzlich sei ihnen bewusst, dass Luca vielleicht irgendwann zurück zu seiner Mutter geht, sie nicht erziehungsberechtigt sind und andere Rahmenbedingungen gelten als beim eigenen Kind. «Und Luca ist auch wirklich kein Ersatz für den unerfüllten Kinderwunsch», doppelt Beatrice noch einmal nach und fügt bestimmt an: «Und trotzdem ist er für mich emotional wie ein leibliches Kind. Nur weil ich nicht weiss, ob er fünf, zehn oder achtzehn Jahre bei uns bleibt, kann ich nicht keine Bindung zu ihm aufbauen. Zeit spielt keine Rolle. Wir begleiten ihn, solange er da ist und uns braucht.»
Auch wenn der Familie Loosli durchaus klar ist, dass sie nicht über die Dauer des Pflegeverhältnisses bestimmen, so sei der Gedanke, dass Luca auf unbestimmte Zeit als Pflegekind bei ihnen lebe, im Alltag nicht präsent. «Das wird mir nur in besonderen Momenten bewusst. Wenn ich zum Beispiel seine Tasche packe, weil er fürs Wochenende oder die Ferien zu seiner Mama oder seinem Papa geht.»
Loslassen und Tag für Tag nehmen
Das seien auch für sie schwierige Momente. «Ich lerne, Stück für Stück loszulassen, nehme Tag für Tag.» Auch Adrian denkt bewusst nicht zu viel darüber nach, dass Luca nicht sein leiblicher Bruder ist und vielleicht irgendwann wieder geht. «Wahrscheinlich passiert das nicht in den nächsten Jahren», sagt der Elfjährige zuversichtlich. Denn er vermisst ihn, wenn er nicht da ist. «Dann habe ich niemand zum ‹chefle›», sagt er und lacht. Luca hat gehört, was Adrian gesagt hat, und ergänzt lachend: «Wir kämpfen manchmal miteinander.» Sagts und fragt Beatrice nach einer Süssigkeit. Danach verschwindet er Richtung Kinderzimmer. «Er hat sicher zwei Süssigkeiten genommen, so schnell wie er jetzt verschwunden ist», vermutet Adrian, «so wie letztes Mal.» Luca antwortet nicht, von weitem hört man ihn lachen.
«Diesmal habe ich gut geschaut, dass er nur eins nimmt», sagt Beatrice und lacht ebenfalls. Sie achtet strikt auf die Ernährung, weil sie weiss, was ihm schadet. Dass Luca auch anderes erlebt, erachtet die 41-Jährige nicht nur als Nachteil. «Er bekommt drei verschiedene Lebensmodelle mit und kann später einmal wählen, wie er selber leben möchte.»
*Namen geändert
Text: Melanie Bär, Journalistin BR | Zeichnungen: Tabitha Zurbrügg